Antisemitismus heute.
Lesung von Peter Menne und Reiner Diederich aus „Der Müll, die Stadt und der Skandal“

Mit 60 bis 65 Gästen war Frankfurts „Club Voltaire“ gut gefüllt. Zur
Lesung von
Peter Menne und
Reiner Diederich am
22. Oktober 2016 auf Einladung von
KunstGesellschaft und
Business Crime Control im Rahmen der GegenBuchMasse waren auch Interessierte gekommen, die man dort kaum erwartet hätte.
Rainer Werner Fassbinders Drama „Der Müll, die Stadt und der Tod“ nahmen
die beiden Referenten zum Anlaß, um über Antisemitismus heute zu
sprechen. Darum drehte sich auch die Diskussion. „Projektion“ und
"Ablenkung" waren dabei die entscheidenden Stichworte. Wie beides
funktioniert, wurde auf drei Ebenen nachgezeichnet: Im Drama selbst, in
dessen Rezeption und in seiner Vorgeschichte. Im Drama wird der
Mechanismus mit den Mitteln des Theaters komprimiert dargestellt.

Auf
die Juden wurde seit dem Mittelalter das Negative an der Geldwirtschaft
projiziert. Sie seien schuld an Spekulation, überhöhten Zinsen und ganz
allgemein an der Herrschaft des Tauschwerts (Geld) über den
Gebrauchswert (den Nutzen eines Produkts für die Befriedigung von
Bedürfnissen). Damit wird abgelenkt von den systemischen Zusammenhängen
einer Marktwirtschaft. Aus einer eher emotionalen, nicht aufgeklärten
Kritik am Marktgeschehen können so antisemitische Ressentiments
entstehen und befördert werden. Diese Ablenkung funktioniert auch heute
noch.
In der deutschen Rezeption von Fassbinders Stück
wiederholte sich zum Teil diese Projektion, denn konservative Kritiker
unterstellten gerne, dass Antikapitalisten eigentlich Antisemiten seien.
Hitlerbiograph und FAZ-Herausgeber Joachim Fest behauptete gar, die
linke Szene betrachte Antisemitismus als Mittel zur Weltrevolution.
Am
Beispiel der Umstrukturierung des Frankfurter Westends vom Wohngebiet
zum Bürostandort, die den zeitgeschichtlichen Hintergrund von
Fassbinders Stück bildete, stellte Peter Menne dar, welchen
Realitätsgehalt die Behauptung hatte, „jüdische Spekulanten“ hätten
dabei die Hauptrolle gespielt. Das Stadtplanungsamt wollte Hochhäuser
statt einer Renovierung von Gründerzeitbauten. Eine breite und disparate
Investorenschar erfüllte die Wünsche des Planungsdezernenten Hans
Kampffmeyer, von Ärzten und Anwälten über mittlere und höhere Beamte bis
hin zu Pensionären. Die „Spekulanten“ geschimpften Immobiliendevelopper
dominierten zwar die Schlußphase – doch besaßen sie gerade mal 15 % der
Fläche. Über die mit 10 % der Fläche zweitgrößte Investorengruppe der
Versicherungen sprach niemand: keine Angriffe gegen sie. Den
Einzelkaufleuten hingegen wurde teils sogar eine Religionszugehörigkeit
angedichtet: der muslimische Perser Ali Selmi wurde als Jude beschimpft.

Die
Wirklichkeit ist komplex: deren Analyse vielen zu mühselig in einer als
ungerecht empfundenen Welt. Einzelne „Sündenböcke“ böten da eher eine
emotionale Entlastung, so die These von Peter Menne.
Das
Verhältnis von Antisemitismus und Kapitalkritik war Gegenstand des
Beitrags von Reiner Diederich. Er bezog sich auf Max Horkheimer, der „in
den 1930er Jahren gesagt hat, dass wer vom Faschismus reden wolle, vom
Kapitalismus nicht schweigen dürfe. Analog ließe sich heute dazu sagen:
wer über Antisemitismus und Fremdenhass reden will, darf über die realen
Macht- und Abhängigkeitsverhältnise in Wirtschaft und Gesellschaft
nicht schweigen“. Diederich zeigte auf, wie mit Hitlers angeblichem
„nationalen Sozialismus“ Symbole der Arbeiterbewegung umfunktioniert
wurden. Aber die „beinahe sozialistisch klingenden“ Forderungen des
NS-Parteiprogramms wurden ausschließlich auf „jüdisches Kapital“
bezogen. Die Nazis verschleierten ökonomische Differenzen, indem sie
behaupteten, es seien ethnische.
Diederich zitierte aus dem Interview, das er im letzten Jahr mit Michel Friedman geführt hat – vor dem
Symposium
der KunstGesellschaft zum 30. Jahrestag der Bühnenbesetzung im
Frankfurter Schauspiel, mit der die Uraufführung von Fassbinders Stück
verhindert wurde. Es ist in dem von ihm und Peter Menne herausgegebenen
Buch (siehe unten) abgedruckt. Weiter referierte er die Position von
Birgit Seemann aus ihrem Buchbeitrag. Sie kritisierte, dass es
Fassbinder an Empathie für die Opfer der Shoa gefehlt habe. Anders als
bei seinem Engagement für Randgruppen wie Prostituierte, Schwule oder
Gastarbeiter fehle ihm Verständnis für die Position von Juden im
Nachkriegsdeutschland.
Friedman stellte fest, dass antisemitische
Positionen – in allen Schichten der Gesellschaft! – heute wieder ganz
offen geäußert werden. Daneben stehen sehr sublime Formen, wie sie
Diederich unter Bezug auf Armin Pfahl-Traughbers im Buch enthaltene
vergleichende Übersicht aufzeigte: „Da Antisemitismus in der
Bundesrepublik Deutschland offiziell tabuiert ist und strafrechtlich
verfolgt werden kann, bedienen sich Rechtspopulisten wie Jürgen Elsässer
und die NPD vielerlei Anspielungen und Kodierungen“.
In der
Diskussion wurde beklagt, dass es trotz 60 Jahren politischer Bildung
nicht gelungen ist, antisemitische Stereotype und Ressentiments, die in
der einen oder anderen Form bei über der Hälfte der deutschen
Bevölkerung zu beobachten sind, entscheidend zurückzudrängen. Dass dies
nötig bleibe, darüber waren sich alle einig – doch mit welchen
politischen und pädagischen Maßnahmen es gelingen kann: da bleibt
weitere Diskussion notwendig.
Oliver KalldeweyDiederich, Reiner / Menne, Peter (Hrsg.):
Der Müll, die Stadt und der SkandalNomen-Verlag, 168 Seiten, 14,90 Euro
www.nomen-verlag.deISBN: 978-3-939816-26-3
Das Buch gibt es auch im Denkladen:
www.denkladen.de
GegeBucMasse 2016: Antisemitismus heute am 16.12.16